Чтец / Der Vorleser
Книга для чтения на немецком языке
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Тематика:
Немецкий язык
Издательство:
КАРО
Автор:
Шлинк Бернхард
Год издания: 2024
Кол-во страниц: 256
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Вид издания:
Художественная литература
Уровень образования:
Дополнительное образование
ISBN: 978-5-9925-1912-9
Артикул: 850702.01.99
«Чтец» Бернхарда Шлинка — международный бестселлер. Книга переведена на десятки языков, собрала букет престижных премий в Европе и Америке и была успешно экранизирована. Молодой юрист на процессе против нацистских преступников увидел среди подсудимых свою первую любовь. Их яркий роман, вспыхнувший внезапно за восемь лет до процесса, так же внезапно оборвался, когда она без объяснений исчезла из города. Но жизнь свела их снова, теперь уже в других, куда более сложных обстоятельствах. Неадаптированный текст романа снабжен комментариями и словарем.
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Bernhard SCHLINK DER VORLESER MODERNE PROSA Комментарии и словарь А. Е. Смирновой
УДК 372.8 ББК 81.2 Нем-93 Ш68 Шлинк, Бернхард. Ш68 Чтец / Б. Шлинк : книга для чтения на немецком языке. — Санкт-Петербург : КАРО, 2024. — 256 с. — (Moderne Prosa). ISBN 978-5-9925-1912-9. «Чтец» Бернхарда Шлинка — международный бестселлер. Книга переведена на десятки языков, собрала букет престижных премий в Европе и Америке и была успешно экранизирована. Молодой юрист на процессе против нацистских преступников увидел среди подсудимых свою первую любовь. Их яркий роман, вспыхнувший внезапно за восемь лет до процесса, так же внезапно оборвался, когда она без объяснений исчезла из города. Но жизнь свела их снова, теперь уже в других, куда более сложных обстоятельствах. Неадаптированный текст романа снабжен комментариями и словарем. УДК 372.8 ББК 81.2 Англ-93 © КАРО, 2024 Все права защищены ISBN 978-5-9925-1912-9
ERSTER TEIL
Als ich fünfzehn war, hatte ich Gelbsucht. Die Krankheit begann im Herbst und endete im Frühjahr. Je kälter und dunkler das alte Jahr wurde, desto schwächer wurde ich. Erst mit dem neuen Jahr ging es aufwärts. Der Januar war warm, und meine Mutter richtete mir das Bett1 auf dem Balkon. Ich sah den Himmel, die Sonne, die Wolken und hörte die Kinder im Hof spielen. Eines frühen Abends im Februar hörte ich eine Amsel singen. Mein erster Weg führte mich von der Blumenstraße, in der wir im zweiten Stock eines um die Jahrhundertwende gebauten, wuchtigen Hauses wohnten, in die Bahnhofstraße. Dort hatte ich mich an einem Montag im Oktober auf dem Weg von der Schule nach Hause übergeben. Schon seit Tagen war ich schwach gewesen, so schwach wie noch nie in meinem Leben. Jeder Schritt kostete mich Kraft. Wenn ich zu Hause oder in der Schule Treppen stieg, trugen mich meine Beine kaum. Ich mochte auch nicht essen. Selbst 1 das Bett richten — (устар.) стелить постель 5
wenn ich mich hungrig an den Tisch setzte, stellte sich bald Widerwillen ein. Morgens wachte ich mit trockenem Mund und dem Gefühl auf, meine Organe lägen schwer und falsch in meinem Leib. Ich schämte mich, so schwach zu sein. Ich schämte mich besonders, als ich mich übergab. Auch das war mir noch nie in meinem Leben passiert. Mein Mund füllte sich, ich versuchte, es hinunterzuschlucken, preßte die Lippen aufeinander, die Hand vor den Mund, aber es brach aus dem Mund und durch die Finger. Dann stützte ich mich an die Hauswand, sah auf das Erbrochene zu meinen Füßen und würgte hellen Schleim. Die Frau, die sich meiner annahm, tat es fast grob. Sie nahm meinen Arm und führte mich durch den dunklen Hausgang in den Hof. Oben waren von Fenster zu Fenster Leinen gespannt und hing Wäsche. Im Hof lagerte Holz; in einer offenstehenden Werkstatt kreischte eine Säge und flogen die Späne. Neben der Tür zum Hof war ein Wasserhahn. Die Frau drehte den Hahn auf, wusch zuerst meine Hand und klatschte mir dann das Wasser, das sie in ihren hohlen Händen auffing, ins Gesicht. Ich trocknete mein Gesicht mit dem Taschentuch. »Nimm den anderen!« Neben dem Wasserhahn standen zwei Eimer, sie griff einen und füllte ihn. Ich nahm und füllte den anderen und folgte ihr durch 6
den Gang. Sie holte weit aus, das Wasser platschte auf den Gehweg und schwemmte das Erbrochene in den Rinnstein. Sie nahm mir den Eimer aus der Hand und schickte einen weiteren Wasserschwall über den Gehweg. Sie richtete sich auf und sah, dass ich weinte. »Jungchen«, sagte sie verwundert, »Jungchen«. Sie nahm mich in die Arme. Ich war kaum größer als sie, spürte ihre Brüste an meiner Brust, roch in der Enge der Umarmung meinen schlechten Atem und ihren frischen Schweiß und wusste nicht, was ich mit meinen Armen machen sollte. Ich hörte auf zu weinen. Sie fragte mich, wo ich wohnte, stellte die Eimer in den Gang und brachte mich nach Hause. Sie lief neben mir, in der einen Hand meine Schultasche und die andere an meinem Arm. Es ist nicht weit von der Bahnhofstraße in die Blumenstraße. Sie ging schnell und mit einer Entschlossenheit, die es mir leicht machte, Schritt zu halten. Vor unserem Haus verabschiedete sie sich. Am selben Tag holte meine Mutter den Arzt, der Gelbsucht diagnostizierte. Irgendwann erzählte ich meiner Mutter von der Frau. Ich glaube nicht, dass ich sie sonst besucht hätte. Aber für meine Mutter war selbstverständlich, dass ich, sobald ich könnte, 7
von meinem Taschengeld einen Blumenstrauß kaufen, mich vorstellen und bedanken würde. So ging ich Ende Februar in die Bahnhofstraße. 2 Das Haus in der Bahnhofstraße steht heute nicht mehr. Ich weiß nicht, wann und warum es abgerissen wurde. Über viele Jahre war ich nicht in meiner Heimatstadt. Das neue Haus, in den siebziger oder achtziger Jahren gebaut, hat fünf Stockwerke und einen ausgebauten Dachstock, verzichtet auf Erker oder Balkone und ist glatt und hell verputzt. Viele Klingeln zeigen viele kleine Apartments an. Apartments, in die man einzieht und aus denen man auszieht, wie man Mietwagen nimmt und abstellt. Im Erdgeschoss ist derzeit ein Computerladen; davor waren dort ein Drogeriemarkt, ein Lebensmittelmarkt und ein Videoverleih. Das alte Haus hatte bei gleicher Höhe vier Stockwerke, ein Erdgeschoss aus diamantgeschliffenen Sandsteinquadern und drei Geschosse darüber aus Backsteinmauerwerk mit sandsteinernen Erkern, Balkonen und Fensterfassungen. Zum Erdgeschoss und ins Treppenhaus führten ein paar Stufen, unten 8
breiter und oben schmaler, auf beiden Seiten von Mauern gefasst, die eiserne Geländer trugen und unten schneckenförmig ausliefen. Die Tür war von Säulen flankiert, und von den Ecken des Architravs1 blickte ein Löwe die Bahnhofstraße hinauf, einer sie hinunter. Der Hauseingang, durch den die Frau mich in den Hof zum Wasserhahn geführt hatte, war der Nebeneingang. Schon als kleiner junge hatte ich das Haus wahrgenommen. Es dominierte die Häuserzeile. Ich dachte, wenn es sich noch schwerer und breiter machen würde, müssten die angrenzenden Häuser zur Seite rücken und Platz machen. Innen stellte ich mir ein Treppenhaus mit Stuck, Spiegeln und einem orientalisch gemusterten Läufer vor, den blankpolierte Messingstangen auf den Stufen hielten2. Ich erwartete, 1 Architrav, der — архитрав (итал. architrave, от греч. άρχι — главный и лат. trabs — балка) — горизонтальная панель, опирающаяся на ряд опор; обычно это балочное перекрытие, поддерживающее верхнюю часть здания 2 … orientalisch gemusterten Läufer, den blankpolierte Messingstangen auf den Stufen hielten — ковровую дорожку с восточными узорами, которую крепили к ступенькам отполированные до блеска латунные прутья 9
dass in dem herrschaftlichen Haus auch herrschaftliche Menschen wohnten. Aber da das Haus von den Jahren und vom Rauch der Züge dunkel geworden war, stellte ich mir auch die herrschaftlichen Bewohner düster vor, wunderlich geworden, vielleicht taub oder stumm, bucklig oder hinkend. Immer wieder habe ich in späteren Jahren von dem Haus geträumt. Die Träume waren ähnlich, Variationen eines Traums und Themas. Ich gehe durch eine fremde Stadt und sehe das Haus. In einem Stadtviertel, das ich nicht kenne, steht es in einer Häuserzeile. Ich gehe weiter, verwirrt, weil ich das Haus, aber nicht das Stadtviertel kenne. Dann fällt mir ein, dass ich das Haus schon gesehen habe. Dabei denke ich nicht an die Bahnhofstraße in meiner Heimatstadt, sondern an eine andere Stadt oder ein anderes Land. Ich bin im Traum zum Beispiel in Rom, sehe da das Haus und erinnere mich, es schon in Bern gesehen zu haben. Mit dieser geträumten Erinnerung bin ich beruhigt; das Haus in der anderen Umgebung wiederzusehen, kommt mir nicht sonderbarer vor als das zufällige Wiedersehen mit einem alten Freund in fremder Umgebung. Ich kehre um, gehe zum Haus zurück und die Stufen hinauf. Ich will eintreten. Ich drücke die Klinke. Wenn ich das Haus auf dem Land sehe, dauert der Traum länger, oder ich erinnere mich danach 10